“Tschüss Times” = “Goodbye, Times!”. Early 2016, Germany’s popular graphic communication monthly PAGE planned a feature about text faces that could be the new alternatives to Times New Roman. They asked my permission to translate my introduction to I Love Times (edited by TwoPoints.Net). I was delighted; it was a good adaptation, and I was even invited to make necessary amendments to their German version.
Aller Wahrscheinlichkeit nach war noch nie eine Schrift in der gleichen Position, wie die Times (oder Times New Roman) es heute ist. Es gab zwar schon andere populäre Schriften, die zu so etwas wie einer Standardwahl für ihre Nutzer, Druckereien und Satzstudios, geworden sind. Aber das war, bevor der Computer an die Stelle von Stiften und Schreibmaschinen getreten ist, bevor sich das Setzen und Drucken von Text zu etwas entwickelt hat, das jeder tun kann.
Seit Aufkommen des Computers verwendete man Times, um alles und jedes zu gestalten: Bücher, Kunstmagazine und -kataloge, wissenschaftliche Artikel, Memos, Briefe, Vermisste-Hunde-Suchzettel, Kleinanzeigen oder Ladenbeschriftungen. Darüber hinaus diente sie über ein Jahrzehnt lang als der standardmäßige Serifenfont für Websites. So wurde die Times – für Designer wie nicht professionelle Anwender gleichermaßen – zu einer Art »Nicht-Wahl«.
Die Sans-Serif-Begleiterin der Times, als ebenso gängige Systemschrift, ist Helvetica, allerdings ist deren Geschichte ein wenig anders. Zum einen war sie auf vielen Computern nie die standardmäßige Serifenlose – wegen ihrer Konkurrentin Arial, die Microsoft als billige Helvetica-Alternative hatte entwerfen lassen. Zum anderen – das ist noch wichtiger – blieb die echte Helvetica unter Highbrow Designern immer eine erstklassige Wahl, besonders für Corporate Designs. Dazu gewann sie eine unbestreitbare Hipness zurück, als Neville Brody sie in den späten 1980ern für das Design des Magazins »Arena« verwendete.
Times durchlebte hingegen eine Zeit, in der sie weder angesagt noch eine naheliegende Wahl für Mainstream-Designer war (außer denjenigen, die sichere Entscheidungen für Zeitungsredesigns trafen). Ihre Allgegenwart machte sie zu einer Schrift, die man mehr tolerierte denn liebte.
Dann, langsam, aber sicher, wurde die Fadheit der Times Teil einer Designstrategie – oder sollte ich sagen: einer Nicht-Design-Strategie? Ich bemerkte dies zuerst, als ich im Belgien der frühen 1990er im Kulturbereich arbeitete. Im Gegensatz zu ihren niederländischen Nachbarn hatten flämische Kulturinstitutionen sehr geringe Budgets für Publikationen und auch keine nennenswerte Designtradition. Entsprechend waren es oft die Künstler, Galeristen, ja, sogar Museumskuratoren selbst, die die Kataloge gestalteten. Man schien darin übereinzustimmen, dass diese Bücher und Broschüren so »undesignt« wie möglich aussehen sollten; jede ausgefallene typografische Gestaltung hätte als Versuch gegolten, den Kunstwerken die Show zu stehlen. Times New Roman war nun die Schrift der Wahl. Als dann eine flämische Kulturinstitution begann, ein hochintellektuelles und später sehr einflussreiches Magazin – »De Witte Raaf« (Der weiße Rabe) – zu veröffentlichen, folgte es diesem Ansatz mit einem strengen Design, das ausschließlich Times verwendete.
Im Laufe der 1990er fingen immer mehr Menschen an, sich für digitale Schriften zu interessieren. Typedesign avancierte zu einem Experimentierfeld, ja fast zu einer Kunstform für sich, mit Designern, die postmoderne Prinzipien für ihr Handwerk adaptierten: Zitat, Appropriation, Sampling, Parodie. Bald schon wandten sich dieselben Designer und ihre jüngeren Kollegen der Tradition zu, verfeinerten ihre Fertigkeiten und legten immer anspruchsvollere Schriften vor.
Nun aber begannen innovative Grafikdesigner, sich in einer rebellischen Reaktion auf all diese typografische Raffinesse vom zeitgenössischen Typedesign abzuwenden. Aus einem weit elementareren Verlangen heraus ließen sie ab von der Suche nach der ultimativ neuen, sorgfältig gearbeiteten Schrift: Sie wollten stattdessen eine Schrift ohne Gesicht (a type without face). Ihr Ansatz war keineswegs neu. Schon in der 1920ern hatten sich Designer für »unpersönliche« und sogar »uninteressante« Schriften ausgesprochen; der Funktionalismus nach 1945 hatte mit Begriffen wie »Neutralität« und »Objektivität« operiert. Allerdings hatten diese ideologischen Motive ausnahmslos zur Wahl einer technischen Grotesk geführt: Akzidenz, Univers, Helvetica oder der etwas romantischeren Geometrie von Futura und Kabel. Als sich, um das Jahr 2000, die Designavantgarde der Times, dem bescheidenen Systemfont, zuwandte und sie als Schrift für ihre provozierenden grafischen Statements nutzte, war dies eine ziemlich neue Art und Weise, Objektivität und Neutralität in der Schriftwahl zu definieren.
Nach und nach entwickelte sich die Times zu einem der großen typografischen Werkzeuge im – wie es heute oft genannt wird – »Hipster-Design«. Dies war und ist immer noch ein grafischer Ansatz, der bewusst Gebrauch macht von gewissen Merkmalen eines nicht professionellen, volksnahen digitalen Layouts, das der akademische Modernismus gern als schlechte Praxis verabschiedet hätte: zentriertem Text, doppelter, dreifacher oder vierfacher Hervorhebung (zum Beispiel unterstrichene fette kursive Versalien), schwarzer Tinte auf rosa oder himmelblauen Papier et cetera. Die Times passte perfekt dazu: eine Schrift, die ernsthafte Typografen fast ganz aufgegeben hatten, aber die Amateure gern verwenden, weil sie vertraut und vertrauenswürdig aussieht – und kostenlos ist. Der Effekt war ziemlich verblüffend. Innerhalb von etwa zehn Jahren wandelte sich der Einsatz der Times im Unterbewusstsein der jungen Designer von einer ironischen Nicht-Wahl (oder sogar einer Entscheidung für Hässlichkeit) zu einer Option, in der sich Hipness und zeitgenössische Sensibilität ausdrückten. Was zunächst Anti-Design war – eine freche, dada-artige Weigerung, überhaupt irgendein typografisches Statement abzugeben –, verkehrte sich nach und nach fast ins Gegenteil: in eine Abkürzung auf dem Weg zu Stilbewusstsein.
Wie andere Medien in Kunst und Design durchlaufen Schriften einen Zyklus der Anerkennung. In postmodernen Zeiten (das heißt seit den frühen 1980ern) sind diese Zyklen zunehmend komplex und subtil geworden. Für eine gewisse Verwirrung sorgt zudem, dass so viele grafische Subkulturen existieren, die einander widerstreitende Gewohnheiten und Codes haben. Die genau gleiche Designentscheidung – eine Farbe, eine bestimmte Anordnung, die Wahl der Schrift – kann in unterschiedlichen Kontexten gegensätzliche Bedeutungen haben. Es gibt also eine Art »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, die dazu führt, dass bestimmte stilistische Mittel für eine Gruppe oder Person altmodisch und seelenlos aussehen – und absolut cool für eine andere.
Was die Times betrifft, ist der Hype vielleicht vorbei – ähnlich wie vor einigen Jahren bei den OCR-Schriften im künstlerischen Kontext. Auf dem Computer haben Standardfonts anderen Kalibers die Times ersetzt: Im Web ist ihr Georgia weit überlegen und gewinnt immer noch an Popularität. Und Lucas de Groot hat seine Serifenlose Calibri im Auftrag von Microsoft so gestaltet, dass sie in etwa der Metrik der Times folgt und die recht magere Schrift alten Stils, die vor zwanzig Jahren unglücklicherweise zum Internet-Star erkoren wurde, problemlos ersetzen kann.
Times New Roman wird also bald ihre Aura der Fadheit und Banalität abwerfen und imstande sein, den ihr zustehenden Platz unter den klassischen Schriften zu reklamieren. Sie ist sicherlich nicht die eleganteste und harmonischste Schriftfamilie, aber sie hat ein unverkennbares Charisma, das besonders hervortritt, wenn man sie in ihren frühen Verkörperungen als Bleisatzschrift sieht. Vielleicht wird es überarbeitete digitale Versionen geben, die dieses Funkeln zurückbringen. Aufmerksame typografische Designer werden dann in der Lage sein, die hybride Struktur und die uneindeutigen Details der Times New Roman mit frischem Blick zu betrachten, und sagen: Ja, das ist wirklich eine ziemlich interessante Schrift.
Jan Middendorp, freier Autor und Verfasser von Büchern wie »Dutch Type«, »Shaping Text« oder »Hand To Type«, Berlin › www.janmiddendorp.com
Vorwort aus dem Buch I Love Times, Volume Eight, I Love Type Series. Edited & Designed by TwoPoints.net. Hongkong (viction:ary) 2014, 160 Seiten. 29,95 Dollar. ISBN 978-988-19439-7-2