Das Berlin von heute wird oft als das beschrieben, was New York in den Achtzigern war: Eine Brutstätte für Aktivitäten in einer Vielzahl von Medien mit überlappenden Disziplinen und verschwimmenden Grenzen, die erstklassige Künstler aus der ganzen Welt anzieht. Dieser Vergleich ist interessant: Wie Berlin hatte das damalige New York Gebiete, die von Bauunternehmern erst noch entdeckt werden mussten und bot Künstlern aller Art erschwingliche Wohnungsund Ateliermieten. In Manhattan spiegelte 1985 das East Village Prenzlauer Berg der späten neunziger Jahre wider und auf der anderen Flussseite war Brooklyn ein wenig wie Friedrichshain: ein halb vergessener Bezirk voller verfügbarer Räume, in die die jüngere Generation zog. Es sind aber auch große Unterschiede zu finden.
Obwohl sonst eine von der Bevölkerungszahl her größere Stadt war New Yorks innovative Kunstszene kompakt und überschaubar. Es war mehr Regel als Ausnahme, Kontakte über Disziplinen hinaus zu pflegen und schnell ein soziales Netzwerk mit Künstlern, Designern, Musikern, Tänzern und Filmemachern aufbauen zu können. Berlins heutige Kulturlandschaft ist bei Weitem zerklüfteter. Und während Freischaffende in New York, und in den Staaten generell, schon immer abwechselnd regelmäßige Treffen energisch organisierten, ist Berlin viel individualistischer. Bestimmten Gruppen, wie Grafikdesignern, fehlt weitgehend eine soziale Struktur, die über ein unverbindliches Treffen wie den Typostammtisch oder Talk About The Weather hinausgeht. Es würde mich in der Tat nicht überraschen, wenn viele der hier in diesem Buch vereinten Personen die Arbeiten der meisten Anderen nicht kennen und/oder einander nie begegnet sind. Das, meine Damen und Herren, ist recht merkwürdig. Und es liegt nicht nur am Internet.
Ungeachtet grundloser Vergleiche (Paris in den Zwanzigern vielleicht? London in den Sechzigern?) ist Berlin wirklich etwas Besonderes, und was es noch interessanter macht ist auch genau das, was es fast undurchdringlich macht: Seine Komplexität und endlose Fragmentierung und der ständige Wandel. Berliner, die jetzt um Vierzig sind und Teil der Veränderungen in den Neunzigern und 2000ern waren, werden ausnahmslos berichten, dass es das „echte“ Berlin nicht mehr gibt und dass die Fremden, die noch immer in Scharen ins gelobte Land verlassener DDR-Bauten, ungenutzter Flussufer-Grundstücke und improvisierter Clubs und Galerien strömen, zu spät kommen. Das ist natürlich Quatsch und ein Stück weit hochnäsig. Neue Künstlerräume öffnen dutzendweise in Neukölln und Wedding; aber ein Großteil davon spielt sich außerhalb des Blickfeldes der ersten Generation von NachwendePionieren ab — die Stadt ist halt auch in Altersgruppen gespalten. Für solche BerlinVeteranen jedoch, die die richtigen Mailinglisten abonnieren und darüber hinwegsehen, dass sie an manchen Abenden die Ältesten im Raum sind, ist der Strom neuer Projekte und Verbindungen in immer neuen Räumlichkeiten unaufhörlich.
Inmitten von dieser fieberhaften Aktivität ist Schriftgestaltung wohl die kleinste und unauffälligste Nische. Aber Berlins Rolle in diesem Gebiet ist recht beeindruckend und im Vergleich möglicherweise so bedeutsam wie im Techno oder in der Kunst. Um kurz Bezug auf meine eigene Arbeit* zu nehmen: Mehr als die Hälfte des Umsatzes der beliebtesten neuen Schriften 2010 bei MyFonts kam aus unabhängigen Foundries in Berlin. Der wohl einflussreichste Verlag von Originalschriften und sein Vertriebsnetzwerk, FSI/Fontshop, haben hier ihren Sitz. Die Standardfonts auf Microsofts Betriebssystem und Officesoftware, genutzt auf der ganzen Welt, wurden von LucasFonsts in Berlin hergestellt. Die beste Grafikdesign-Konferenz der Welt (so der New Yorker Stefan Sagmeister) ist die TypoBerlin. Während vor zwanzig Jahren Erik Spiekermann noch seinen bekannten Witz machte, die Niederlande seien der Ort mit der höchsten Dichte von Schriftgestaltern pro Quadratkilometer, ist diese Rolle längst an seine eigene Heimatstadt gegangen.
Und tatsächlich ist dieser Umstand zu einem großen Teil Spiekermann selbst und den von ihm gegründeten Firmen zuzuschreiben. (Der Grund, aus dem Spiekermann in den Sechzigern nach Berlin kam, ist übrigens der gleiche, aus dem viele Andere progressive Kulturträger jahrzehntelang hierher strömten: um den Militärdienst zu entwischen – da Westberlin eine Insel in der sowjetisch dominierten DDR war, konnte kein Westberliner eingezogen werden.)
Viele der heute in Berlin aktiven Schriftgestalter sind durch Spiekermanns (pre-2000) Designfirma MetaDesign zu irgendeinem Zeitpunkt gegangen; viele veröffentlichten ihre ersten Schriften in der Schriftbibliothek, die er mitgründete: FontShops FontFont. Ein aufschlussreiches Diagramm in der 2009er Berlin-Sonderausgabe des EyeMagazines zeigte die ungeheure Weite des Spiekermannschen Netzwerks es wurde im Zuge seiner Ausstellung im Bauhaus-Archiv Anfang 2011 neu veröffentlicht und unter seinem scharfen Blick zwangsläufig ausgebaut und korrigiert.
Zusätzlich gibt es eine wachsende Zahl indirekter Verbindungen zum MetaDesign/ FontShop-Netzwerk. Der Unterricht (sowohl in Potsdam als auch in Weißensee) des ehemaligen MetaDesigners Luc(as) de Groot, der unter Gerrit Noordzij in Den Haag studierte, hat seinen Beitrag zu einer gut vorbereiteten neuen Generation von Schriftund typografischen Designern sowie Typografie-lastigen Illustratoren geleistet, wie Jan Fromm, Ulrike Wilhelm und Melle Diete. Die Italienerin Elena Albertoni ist eine derer, die nach Berlin kamen um bei LucasFonts zu arbeiten und blieben. Ole Schäfer, ein weiterer Spiekermann-Mitarbeiter, gründete Primetype, wo Verena Gerlach, Andreas Tinnes und Ralph du Carrois Schriften veröffentlicht haben. Schäfer hat außerdem erfolgreich an einen halbvergessenen Teil der Berliner typografischen Vergangenheit angeschlossen: den Beitrag an den ostdeutschen Schriftnachlass von Karl-Heinz Lange, einem Berliner Gestalter, der zu DDR-Zeiten bei Typoart Dresden arbeitete und sich mit Schäfer zusammentat um einige seiner Klassiker neu aufzulegen. Lange wurde ein regelmäßiger Teilnehmer des Typostammtisches bis er 2010 im Alter von 80 Jahren verstarb.
Obwohl die Typoszene nicht annähernd so international ist wie andere Berliner Szenen, hat das Typografie-freundliche Klima Leute aus vielen Orten innerund außerhalb Deutschlands angezogen. Ihre Präsenz beginnt nun in die lokale Szene zurückzukoppeln. Das Ereignis, das dieses Buch dokumentiert, ist ein gutes Beispiel. Rob und Sonja Keller ein Berliner/amerikanisches Paar haben ihr(e) Galerie/Studio geöffnet um ein Projekt auszurichten, das die meisten der Berliner Schriftgestalter umfasst und, vielleicht noch wichtiger, die Arbeit einiger der besten Illustratoren und Grafikdesigner der Hauptstadt zelebriert. Eine exzellente Entscheidung, denn obwohl es ein gegenseitiges Interesse für die Arbeit von einander gibt, sind die tatsächlichen Verbindungen begrenzt. Hoffentlich wird diese Ausstellung helfen dies zu ändern, und hoffentlich wird Mota Italic ein Ort für einen dauerhaften Austausch, der mehr, viel mehr sein wird als A-Z.
Berlin, April 2011
*Meine Arbeit für MyFonts habe ich Anfang 2016 beendet.
Umschlag gestaltet von Rob Keller.
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Capital, die Ausstellung: erstes Event in der Mota Italic Galerie und Buchhandlung; Fotos: Rob Keller.